Onkel Jule in Flensburg – eine Spelunke mit Seele

Ich weiss nicht, ob irgendein Möchtegernstudierter vielleicht doch schon eine Arbeit über die Kneipe Onkel Jule in Flensburg geschrieben hat. Möglich wäre es, denn dort passieren Sachen, die eindeutig eine Studie benötigen. Ich werde meinen Teil dazu beitragen.

Ich weiss nicht viel über das Etablissement Onkel Jule. Es ist eine Kneipe am Hafen in Flensburg, seit Jahren sind keine Renovierungsmassnahmen unternommen. Das Gebäude ist heruntergekommen. Zum Ambiente kann ich sagen: Obwohl ich Norweger bin und das kulturelle und geschichtliche Know-How nicht besitze, werde ich trotzdem behaupten, dass Onkel Jule eine echte Spelunke ist.

Laut Wikipedia ist eine Spelunke nur subjektiv zu beschreiben (weil man natürlich nicht generalisieren kann), aber trotzdem kann man wohl sagen, dass

man Spelunken meist in übel beleumdeten Stadtteilen [findet], oft in Hafengebieten oder Vergnügungsvierteln großer Städte. Nicht zwangsläufig, aber oft, führen Treppen in das im Untergeschoss befindliche Lokal. Die Beleuchtung ist düster, die Decke niedrig, das Mobiliar alt und abgenutzt. Die Luft erscheint stickig und ist meist total verraucht. Die Klientel dieser Kneipen besteht häufig aus zwielichtigen Personen. Die Getränke sind nicht teuer, dennoch kann der unbedarfte Gast übervorteilt werden.

Diese Merkmale passen nicht 100% zu Onkel Jule, ich werde später darauf zurückkommen. Aber das folgende Zitat von Wikipedia stimmt auf keinen Fall bei Onkel Jule:

Der Service in Spelunken lässt zu wünschen übrig, das Ambiente ist oft schmutzig und wenig einladend. Neuankömmlinge werden misstrauisch von anderen Gästen beäugt und taxiert. Halbwelt und Kleinkriminelle bilden oft die Stammgäste.

Am Tag vor Silvester verbrachte ich einige Stunden im Lokal. Vor ein paar Jahren war ich zum ersten Mal dort und war gespannt ob es irgendwelche Veränderungen gegeben hat. Wie dumm kann ich sein?

Es war gegen 23 Uhr als ich durch die Tür ging und das Lokal betrat. Wie Wikipedia auch Spelunken beschreibt, ist die Beleuchtung bei Onkel Jule düster, die Decke niedrig, das Mobiliar alt und abgenutzt. Das Lokal war gut besetzt mit Menschen, was natürlich dazu führte dass die Luft stickig und total verraucht war.

In dem Moment wo ich die Spelunke betrat, drehten sich die meisten um, damit sie mich begutachten konnten. Die meisten kann man sagen, denn nicht alle waren in der Lage, die Blicke auf einen festen Punkt zu platzieren (= besoffen). Laut Wikipedia werden Neuankömmlinge in Spelunken misstrauisch von anderen Gästen beäugt und taxiert, was voll und ganz in dieser Kneipe zutrifft. Ich setzte mich auf einen müden Stuhl am Tresen; alle Tische waren belegt.

Die Aufmerksamkeit von der Dame hinter dem Tresen kam sofort, was natürlich ist wo Trinken auf der Tagesordnung ganz oben steht. Essensmöglichkeiten gibt es bei Onkel Jule nicht. Konzept ist somit klar und deutlich – Schnacken und Trinken. Hmmm…..erst Trinken, dann Schnacken.

Obwohl es eine Auswahl an Getränken gibt, trinken die meisten entweder Bier (Flensburger Pilsener aus der Flasche), Schnaps (Korn, Aquavit) oder eine herrliche Kombination von beiden (die meisten Leute…).

Ich bestellte also eine Flasche Flensburger Pilsener und genoss den ersten Schluck vom eiskalten Bier (nichts schmeckt besser). Mein Glück war es, dass ich direkt neben einer modernen Jukebox Maschine sass. Seit meinem letzten Besuch in der Kneipe wurden ein paar von den idiotischen Spielmaschinen herausgeschmissen und stattdessen eine Jukebox installiert. Damit können also die Gäste selbst die Musik wählen. Ausserdem lädt das Gerät zur Kommunikation ein, denn die Leute diskutieren Lieder, Interpreten und helfen einander (je nach Promille) beim Tippen.

Es dauerte nicht lange, bevor der erste Jukeboxbenutzer mir erklären musste, warum er gerade das Lied wählte. Nachdem ich selbst ein bisschen Kleingeld in die Maschine gesteckt habe und ein paar Songs wählen konnte, wollten wieder andere mit mir sprechen. Entweder um ihre Zustimmung bezüglich der Musikauswahl zu geben oder um kopfschüttelnd selbst etwas besseres zu finden…Kannst du dir vorstellen wie viel Zeit vergeht, wenn man vor so einem Gerät hängt?

Nachdem die anderen Besucher gesehen haben, dass der Mann aus Norwegen nach einem Bier nicht sofort die Kneipe verlässt, gibt es mehr Gespräche mit verschiedenen Menschen. Nach und nach steigt der Alkoholpegel und man weiss vielleicht nicht, was man glauben kann oder nicht. Das ist an sich unwesentlich.

Der Gesamteindruck von den Menschen bei Onkel Jule ist positiv. Auf der einen Seite gibt es die schwerkranken Alkoholiker, die einfach und billig ihre «Medizin» bekommen und gleichzeitig etwas Wärme bekommen. Auf der anderen Seite kommen Leute mit Intellekt, die ein komplexes Gespräch suchen mit Menschen, die man nie wieder treffen wird. Ich bin sicher, dass die soziale Spannweite gross ist, wenn man vielleicht von den Leuten ganz oben «auf der Leiter» absieht.

Vielleicht ist es einfach und besser für Stammkunden, mit Fremden wie mir zu sprechen und sich gleichzeitig öffnen. Ich kenne die Menschen nicht und wir werden uns höchst wahrscheinlich nicht wieder treffen. Ich werde sie auch nicht in anderen Zusammenhängen sehen und sie darauf ansprechen, was bei Onkel Jule gesagt und gemacht wurde. Eine Sicherheit also.

Die Menschen bei Onkel Jule machen das Lokal zu einem besonderen Platz, sehr zu empfehlen wenn man nicht nur Ruhe für sich selbst haben will, schick essen oder sich vorzeigen will. Obwohl die Toilette aus einer anderen Zeit (sieht aus als ob die Engländer gerade den Raum bombardiert haben) und die Stühle langsam auseinanderfallen, kann man dort einige schöne Stunden verbringen.

Zumindest waren meine Stunden bei Onkel Jule ein Erlebnis, das ich so schnell nicht vergessen werde.

9 kommentarer

  1. Hallo Rune,
    ich gehe in drei Tagen wieder an Bord, um eine Woche mit einem alten Schiff auf der Ostsee herumzusegeln, und wie das Schicksal es will, wird das Schiff (SS Amphitrite) in unmittelbarer Nähe von Onkel Jule liegen. Deshalb freue ich mich darauf, meinem Sohn (16) diese Traditionsgaststätte zeigen zu können, von der ich, seit es mich vor zwölf Jahren spätabends mit meinen Segelkameraden dahin verschlagen hat und bis zum Morgen nicht wieder ausgespien (ausgespuckt) hat, jedem vorschwärme. Uns – deshalb hinterlasse ich hier meinen Kommentar als muttersprachlicher Deutscher – ist damals auch sofort in den Sinn gekommen, dass es sich bei Onkel Jule geradezu um einen Archetyp von Spelunke handelt. Wenn dieser Begriff auf eine Gatstätte diesseits von Tortuga passt, dann auf Onkel Jule, und ich meine das nicht abwertend.  Ich gehe jedesmal dahin, wenn ich in Flenburg bin. Es ist ein wenig verrucht und abenteuerlich, aber das macht den Reiz aus. Und schließlich legt Onkel Jule auch Wert darauf, die älteste Gaststätte am Platz zu sein, allerdings wohl mit Ausnahme des vollflächigen Edelstahlpissoirs.
    Schöne Grüße nach Norwegen aus Deutschland
    Joko

    1. Hi Joko,

      Spelunke ist definitiv nicht negativ gemeint und ich freue mich auch darauf, in diesem Jahr wieder dort Platz nehmen zu können! Nichts gegen Tortuga, aber Onkel Jule ist einfach Spitze!

  2. … dann mal viel Spaß zusammen mit Schwager M. in der "Mutter aller Spelunken"… und nicht die dicke Lippe riskieren…. sonst gibt´s was auffe …. unter an der Küste 😉

    1. Hehe, wir werden uns sicherlich benehmen, egal wie schwer wir danach aus der Tür fallen werden 🙂 Dürftest gern mitkommen, aber am Anfang der Woche sind wohl hauptsächlich schräge Vögel und Touristen unterwegs, schätze ich 🙂

  3. Hallo,
    ich habe deinen Bericht mit Humor gelesen und ich muss sagen, das mir dieser Bericht sehr gut gefällt….
    Ich arbeite da nun schon seit einiger Zeit und auch ich muss sagen, das ich da immer wieder was erlebe und bei vielen Sachen schmunzeln muss…
    Derzeit arbeite ich gerade an einem Gästebuch, der derr möchte kann sich dort verewigen mit Foto und gern möchte ich deine Geschichte dort mit reinnehmen…
    Ich hoffe du bist bald wieder da, in der Erlebnisgastronomie "Onkel Jule"….
    Lg Ilka   🙂

    1. Ich freue mich definitiv auf den nächsten Besuch. In diesem Sommer waren mein Schwager und ich leider an einem Montag unterwegs 🙁 = Ruhetag! PS. Wohin gehen die «Spelunkenbesucher» dann hin? 🙂

  4. Supert!
    Jeg har også besøkt onkel Jule – søndag morgen. Festen hadde foregått hele natta, og klientellet så ut deretter. Men hyggelig: Jeg og bror ble påspandert runder med Jägermeistere i små flasker: Husk å legge flaska på bordet. Står den oppreist betyr det at neste runde er på deg!

  5. Moin,war im jahre anno domini 2003 beruflich in Flensburg.Meine Stammkneipe war natürlich Onkel Jule.
    Mit meiner freundin war ich nach meiner Knie OP zu Besuch…ich kann nur sage…danke eine super tolle crew.
    Mittlerweile nicht mehr meine Freundin…sondern meine Ehefrau…zwei schietbüddel sind auch schon da.
    Einenn Gruss aus Obermarschacht.
    Andreas

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